Training in Tokio und Okinawa - Ein Reisebericht aus Japan
Anfang April stand für mich dieses Jahr ein ganz besonderer Urlaub an. Ich erfüllte mir einen lang ersehnten Traum und flog zusammen mit meiner Frau ins Land der aufgehenden Sonne - nach Japan. Zum einen um Land und Leute kennenzulernen, zum anderen aber natürlich zum Trainieren im Heimatland des Karate!
Ich konnte in der Vergangenheit schon viele Orte bereisen und auch Karate-Training habe ich bereits im Ausland oder daheim bei verschiedenen internationalen und japanischen Meistern erleben dürfen. Aber dieser Trip weckte so viel Spannung und Vorfreude, wie kaum eine Reise zuvor.
Und dann war es endlich so weit - von Hamburg ging es über Wien nach Tokio. Morgens gegen 8 Uhr Ortszeit landeten wir am Airport Haneda und waren (nach rund 17 Std. Anreise) bereit, in den Tag zu starten. Abgesehen von einem Besuch beim Hirota Store (für einen neuen Karate-Gi) war für den ersten Tag nichts Weiteres geplant außer “Ankommen” und etwas Orientieren in der weltgrößten Metropole. Der befürchtete Jetlag blieb uns beiden glücklicherweise erspart, sodass wir noch am Ankunftstag erste Ecken von Tokio erkunden konnten.
Am zweiten Morgen ging es dann bereits ins Honbu Dojo, dem Headquarter der JKA, wo ich 5 Tage lang am Training teilnahm. Von außen wirkt das Dojo recht unscheinbar und unspektakulär. Doch dieser (täuschende) Eindruck änderte sich sofort mit Betreten des Eingangsbereichs und die Atmosphäre steigerte sich spürbar mit jeder Etage - über den Umkleidebereich im 1. Stock bis hin zum Trainings-Dojo im 2. Stock. Hier durfte ich nicht nur Seite an Seite mit hochrangigen Trainingspartnern trainieren, sondern vor allem die erstklassige Anleitung verschiedener JKA-Instruktoren erfahren.
Ich trainierte bei:
Ryota Osato (3. Dan) - Yushi Hakizume (4. Dan) - Hidemoto Kurihara (4. Dan) - Tatsuro Igarashi (4. Dan) - Ryosuke Shimizu (6. Dan) - Koichiro Okuma (7. Dan)
Immer dabei waren die drei aktuellen Trainees, die zur Zeit die Instruktor-Ausbildung durchlaufen:
Keisei Sakiyama (2. Dan) - Minami Kobayashi (2. Dan) - Rune Koizumi (3. Dan)
Okuma Shihan entschied zu Beginn seiner Einheit kurzerhand, dass wir ein Stockwerk höher im Grand Dojo trainieren. Ein besonderes Erlebnis, da hier für gewöhnlich ausschließlich die Instruktoren selbst trainieren und das Grand Dojo somit für die “Allgemeinheit” nicht ohne Weiteres zugänglich ist.
Jedes Training war gänzlich unterschiedlich und mit der ganz persönlichen Handschrift der jeweiligen Instruktoren versehen, die alle für sich auf individuelle Schwerpunkte eingingen und dabei verschiedenste Methoden und Trainingsansätze verfolgten. So erhielt ich einen hervorragenden Mix aus den unterschiedlichen Expertisen der jüngeren (noch auf Wettkämpfen aktiven) Senseis und der älteren Meister, die bereits eine umfangreiche und erfolgreiche Wettkampfkarriere hinter sich haben.
Was jedoch alle gemeinsam hatten, war der starke Fokus auf eine funktionale und effektive Basis. Kihon war Bestandteil jeder Einheit und aus den jeweiligen Themen, die im Kihon umfangreich behandelt und erarbeitet wurden, ergab sich ein Transfer zu Kata und Kumite, um diese systematisch zu optimieren. Reaktion, Explosivkraft und Beschleunigung aus einer entspannten (aber hoch fokussierten) Ausgangsposition sind die Schlüsselfaktoren für eine blitzschnelle Aktion bei enormer Reichweite.
Der hohe Anteil an technischer Optimierung bedeutete dabei allerdings nicht, dass man nicht auch konditionell gefordert wurde. Jede 60-minütige Einheit hatte es in sich und war völlig ausreichend, um ordentlich ins Schwitzen zu kommen.
Wenig überraschend, aber dennoch deutlich spürbar, war das hohe Maß an gegenseitigem Respekt und Etikette. Das Aufsagen der Dojo-Kun, sowie das gemeinschaftliche Wischen des Dojos nach dem Training waren eine Selbstverständlichkeit am Ende jeder Einheit.
Das Training im JKA Headquarter war überaus lehrreich und inspirierend!
Neben intensiven Training blieb natürlich auch Gelegenheit, einige Sehenswürdigkeiten und das pulsierende Treiben Tokio´s zu erleben. Mit rund 1000 weiteren Menschen gleichzeitig über die weltbekannte Kreuzung in Shibuya zu gehen, ist schon ein außergewöhnliches Erlebnis und nur eines von vielen Highlights dieser einzigartigen Stadt.
Da am Wochenende im Honbu Dojo kein Training stattfindet, blieb etwas Zeit für Tagesausflüge. Also ging es am Samstag raus aus der Großstadt nach Kawaguchiko, um einen Ausblick auf den nahe gelegenen Mount Fuji zu erhalten. Ein weiterer Ausflug führte uns nach Kamakura. Ein Pflichtbesuch für jeden Karateka, denn hier ist das Grabmal von Gichin Funakoshi, dem Begründer des Shotokan-Karate.
Nach einer spannenden Woche in Japans Hauptstadt reisten wir mit dem Shinkansen weiter nach Kyoto. Vor der Verlegung des Regierungssitzes nach Tokio war Kyoto über ein Jahrtausend lang (bis 1868) die Hauptstadt Japans und ist entsprechend reich an Kultur und historischen Stätten. Neben reichlich Sightseeing unternahmen wir von hier aus auch einen Tagestrip nach Nara, wo die als heilig geltenden Shika (Hirsche) frei durch den Park streifen und sich gerne für einen Keks höflich verbeugen.
Weiter ging es für einen kurzen Stop nach Hiroshima und einen Abstecher nach Miyajima, bevor die letzte Etappe unserer Reise bevorstand - Okinawa, die Wiege des Karate.
Obwohl Gichin Funakoshi aus Okinawa stammt, ist Shotokan-Karate hier nicht wirklich zu finden. Aber es gibt ja noch viele weitere Stilarten in der Welt des Karate und vor allem die Einflüsse der traditionellen Ursprünge interessierten mich sehr. Bereits vor Antritt der Reise hatte ich daher Kontakt zu verschiedenen Meistern aufgenommen und so standen drei Trainingseinheiten für mich auf dem Programm.
Als erstes empfing mich Sensei Masahiro Teruya (8. Dan, Shorin-Ryu) in seinem Dojo. Ich durfte in seiner regulären Trainingsgruppe mittrainieren und wurde sowohl vom Meister selbst als auch von seinen Schülern sehr herzlich empfangen und aufgenommen. Shorin-Ryu ist ein traditioneller Karate-Stil aus Okinawa und gilt als einer der stilistischen Vorläufer des heutigen Shotokan-Karate.
Das Training begann mit einem recht intensiven, konditionellen Anteil, bei dem Kräftigung und Abhärtung die ersten 30 Minuten bestimmten. Danach trainierten wir - natürlich - Kihon. Obwohl die meisten Stellungen nicht so lang und tief sind, wie im Shotokan charakteristisch, wurde ein enormer Fokus auf eine kraftvolle Stabilität gelegt. Anschließend wurde Kata trainiert. Da Shorin-Ryu sehr nah verwandt ist mit dem Shotokan, ähneln sich auch viele Katas. Teruya Sensei unterwies mich somit nicht nur im Shorin-Ryu, sondern nutzte auch die Gelegenheit, seinen Schülern einen Einblick in den Shotokan-Stil zu geben - beziehungsweise durch mich geben zu lassen. Ich durfte Tekki Shodan, Heian Nidan und Heian Godan demonstrieren, welche jeweils auch (unter anderer Bezeichnung und mit inhaltlichen Abweichungen) im Shorin-Ryu vorkommen. Teruya Sensei, der selbst auch Shotokan beherrscht, verdeutlichte seinen Schülern die Unterschiede zur jeweiligen Shorin-Ryu Variante, bevor diese dann wiederum inhaltlich behandelt und trainiert wurde.
Es war also sowohl für mich als auch für seine Schüler ein interessanter Einblick in die jeweils "fremde" Stilart und ein toller Austausch, der von allen Beteiligten als sichtliche Bereicherung wahrgenommen wurde.
Das nächste Training führte mich zum Karate Kaikan, wo ich in einer kleinen Gruppe unter Meister Hidetada Ishiki (8. Dan, Okinawa Kobudo) einen Einblick in die traditionelle Waffenkunst erhalten sollte. Weniger konditionell, dafür koordinativ höchst fordernd, erlernten wir erst den Umgang mit dem Sansetsukon und anschließend mit den Kama.
Das Sansetsukon besteht aus drei langen Holzsegmenten, die durch Ketten oder Seile verbunden sind und erinnert an ein verlängertes Nunchaku, ist jedoch komplexer in der Handhabung. Die Kama ist eine traditionelle, aus Okinawa stammende Waffe, die einer Sichel ähnelt und paarweise geführt wird. Ihre gebogene Klinge erlaubt sowohl schneidende als auch blockierende Techniken, wodurch sie eine der vielseitigsten Waffen des Kobudo ist.
Mit beiden Waffen erlernten wir zunächst die generelle Handhabung, sowie einzelne Block- und Angriffsbewegungen, bevor Ishiki Sensei uns jeweils eine Kata mit entsprechendem Waffeneinsatz vermittelte. Ein spannender Einblick in eine für mich ganz neue Kampfkunst, die historisch, technisch und kulturell eng mit dem Karate Okinawas verbunden ist.
Nach der zweistündigen Einheit hatte ich noch die Gelegenheit für eigenes Karate Training und lief ein paar Katas in der unglaublichen Kulisse der beeindruckenden Anlage.
Das Karate Kaikan ist das zentrale Trainings- und Kulturzentrum für das ursprüngliche Okinawa-Karate. Es vereint Forschungseinrichtungen, ein Museum sowie moderne Dojo-Hallen und dient somit auch als Veranstaltungszentrum.
Nach meinem Aufenthalt im Karate Kaikan führte mich der Weg in den nahegelegenen Onoyama Park, wo sich das berühmte Denkmal zu Ehren von Gichin Funakoshi befindet. Ein weiterer “Pflichtbesuch” neben der Besichtigung der historischen Shuri Burg, dem einstigen Herrschaftssitz des Ryukyu-Königreichs und kulturellen Wahrzeichen Okinawas.
Mein drittes Training auf Okinawa führte mich nach Nishihara. Eine gut eineinhalbstündige Busfahrt, die sich lohnen sollte, denn ich hatte ein Privat-Training bei Hanshi Tetsuhiro Hokama verabredet.
Tetsuhiro Hokama (geb. 1944) ist ein weltweit hoch angesehener Karate- und Kobudo-Meister aus Okinawa, der den 10. Dan im Goju-Ryu-Karate trägt. Er hat unter anderem 1987 das weltweit erste Karate-Museum gegründet und gilt als einer der profundesten Kenner der traditionellen Kampfkünste Okinawas. Dementsprechend betrat ich sein Dojo mit einer Mischung aus Ehrfurcht und vorfreudiger Erwartung.
Meister Hokama empfing mich freundlich und zeigte mir zunächst sein Dojo, bevor es mit dem Training losging. Wir starteten mit leichter Erwärmung und Koordinationsübungen, die schnell schon gar nicht mehr so “leicht” waren. Anschließend folgten einige Übungen zur Kräftigung - insbesondere Griffkraft - bevor es über etwas Kihon zu Anwendungsbeispielen ging. Hier zeigte der Meister eindrucksvoll seine Fertigkeiten und dass er trotz seinen 80 Jahren durchaus noch in der Lage ist, sich aus meinem Griff zu befreien und mich dabei nicht unerhebliche Schmerzen spüren zu lassen. Und das mit einer scheinbar unbeeindruckten Leichtigkeit. Wieder umtrieben mich gemischte Gefühle - dieses Mal: Erstaunen, Schmerz, Bewunderung und Erkenntnis.
Anschließend führte auch Meister Hokama mich weiter in die Künste des Kobudo ein, die für ihn untrennbarer Bestandteil des traditionellen Okinawa-Karate sind. Er brachte mir zunächst den Umgang mit dem Nunchaku bei, bevor wir mit dem Bo trainierten. Der Bo ist ein etwa 180 cm langer Stab und zählt zu den bekanntesten traditionellen Kobudo-Waffen Okinawas. Er wurde ursprünglich als einfacher Geh- oder Trage-Stock genutzt und entwickelte sich zu einer vielseitigen Waffe mit kraftvollen Schlägen, Stichen und Blocktechniken. Diese zeigte mir Meister Hokama zunächst, bevor er mir im Anschluss eine Bo-Kata beibrachte. Abschließend durfte ich noch etwas Schlagkrafttraining an verschiedenen Makiwaras absolvieren, welches ich einige Tage später noch spüren sollte.
Es war ein intensives und überaus lehrreiches Training in sämtlichen Facetten, das mich auf jeder Ebene gleichermaßen beeindruckt wie inspiriert hat.
Tetsuhiro Hokama ist jedoch nicht nur ein hochrangiger Meister des Karate und Kobudo, sondern zählt auch zu den wenigen Menschen weltweit, die die Kunst der traditionellen japanischen und chinesischen Kalligrafie beherrschen. Diese seltene Gelegenheit ließ ich nicht aus und fragte Meister Hokama, ob er mir eine Kalligrafie für unser Dojo anfertigen würde. Eine Bitte, der er erfreut nachkam.
Während das Werk zum Trocknen lag, überbrückten wir die Wartezeit in angeregtem Austausch über Karate im Allgemeinen, über die Entwicklungen, sowie die zwei Welten aus "Wettkampf-Karate” und Budo-Karate und über seinen spannenden Lebensweg. Aber auch an meinem Weg war der Meister sichtlich interessiert und bestaunte einige Bilder, die ich ihm von unserem Karate im Kyotokan zeigte. Am Ende war es ein überraschend gelassener 90-minütiger Plausch, der nicht weniger spannend war als die vorangegangene zweistündige Trainingseinheit.
Eine absolute Ehre, ein prägendes Erlebnis und der krönende Abschluss meiner Trainingsreihe auf Okinawa und damit meiner ersten - und sicherlich nicht letzten - Reise nach Japan!
Voller Impressionen und Dankbarkeit kehre ich mit reichlich Input zurück nach Deutschland und freue mich, meine gesammelten Erfahrungen ins Kyotokan weiterzutragen.
Oss, Sascha
Ein paar Eindrücke meiner Reise: